Warthegau

Warthegau. Wo liegt das eigentlich?, fragte ich mich. Ich fragte mich das in Gedanken ganz vage schon lange. Seit den Nachmittagen, als ich mit meiner Oma zusammen saß, ein Aufnahmegerät auf ihrem Tisch. Warthegau, um 45, wie Vieh in Wagen, Frauen, Männer, Kinder, wochenlang. Wollen Sie auch Ihren polnischen Pass haben? Polnischen Pass? Ich verstehe nicht. Ihren polnischen Pass!

Als meine Freundin mir erzählt, dass sie ganz bald mit ihrer Gruppe zu einem Performance-Workshop nach Polen fahren will, und sie mich fragt, ob ich nicht vielleicht dabei sein will, entscheide ich schnell. Es wird ein Antrag geschrieben, die Freistellung scheint an den Haaren herbeigezogen, wird bewilligt, gerunzelte Stirn, ein fragender Blick. Den Zug verpasse ich.

Abends am Hostel die ersten Gespräche mit der Gruppe. Auf Englisch war ich schon eingestimmt durch die spontane Mitfahrgelegenheit; in diesen Tagen fuhren offenbar einige in die Gegend, die Performance machten. Was mich interessiert, ist mehr die Handlung, dieses vollkommene Sein in der Handlung, nicht das Bild. Damit hast du dir deinen Platz in der Gruppe schon verdient! Verdient? Ich musste meinen Platz hier verdienen?

In der knisternden Luft der schwer zu heizenden staubigen Räume liegt so viel, so viel, dass trotz der Stille keine Ruhe zu finden ist. Lauter Bewegung im Innern um mich. Dann stützt meine Hand das Gewicht eines andern, minutenlang, bis ich drin bin und diese diffuse Energie spüre, die macht, dass nicht mehr ich es steuere, was ich tu’. Körper schieben sich Meter für Meter, ein Ziehen über den Boden, Tuch, gespannt, auf und ab. In Zeit nicht zu fassen stürzt das Gebilde, rutscht, und mein Ellenbogen landet unsanft im Gesicht einer andern, das unter’m Auge sofort blau wird, dunkelblau, und sichtlich schmerzt. Ich fühle Scham und mich mies. Was für ein Anfang! Aber etwas kommt in Gang und die ersten Improvisationen im Raum sind beglückend. Begegnungen entstehen, ein zartes Spiel mit den Formen der eigenwilligen Gegenstände, die wir aus eigenwilligen Winkeln des zweistöckigen Ladengebäudes gezogen haben.

Am zweiten Tag sollen wir eigene Bilder, eigene Handlungen planen. Und verteilt im Raum findet man sich in vorgegebenem Takt zusammen, um einander voran zu bringen. Hast du schon eine Idee? Ja, ich habe eine. Erzählst du sie mir? Dir erzähle ich sie nicht. Ich habe sie eben schon anderen erzählt, aber dir erzähle ich sie nicht. Ach. Und was meinst du, wie ich mich jetzt fühle? Na – scheiße! Ich fühl’ mich ja auch scheiße. Schnitt.

Ich lasse mich ein, auf diese eigenartige Spannung, die ich bei vielen in der Gruppe spüre, auf Übungen, Situationen, Gespräch. Ja, eigentlich dachte ich, ich könnte mich hier vielleicht mit der Geschichte meiner Familie beschäftigen. Aber es ist okay, ich lasse mich ein. Und es ist so ganz anders als ich gedacht hätte, mein Thema passt hier vielleicht nicht her. Ohnehin vergeht Zeit so schnell, da wäre es doch schade, traurig zu sein über etwas, das nicht ist. Sowieso, mein Plan war nicht besser. Ich hatte mich in einem Eckcafé sitzen sehen. Ich blickte eine Straße entlang. Stundenlang. Straßenbahnschienen glänzten an Stellen, die besonders abgerieben waren, im Licht. Und hier gibt es gar keine Straßenbahnschienen.

Dann wird es Abend. Besucher füllen den Raum. Nach unserem Anfangsbild bewegen sich alle in der Gruppe auf ihren eigenen Pfaden. Ich halte mich genau an den Plan. Spüre die Röte in meinen Wangen. Frage mich, ob das überhaupt irgendwas mit Performance zu tun hat. Mit erhobenem Haupt finde ich einen Platz, der sich bietet, von den anderen ungenutzt. Ich öffne die alte Ledertasche und hole zwei Schraubgläser heraus. Die Milch kommt ins Glas. Die Gretschka in neun kleinen Häufchen fein säuberlich auf ein Stück Küchenpapier. Warten. Einpacken. Weiter. Erhobenen Hauptes finde ich einen Platz, der sich bietet, ungenutzt von den anderen. Später würde mir eine Besucherin sagen, ich sei wie ein Satellit gewesen, der die anderen in der Gruppe umkreist. Doch zuerst endet unsere Gruppenperformance. Alle Beteiligten ziehen sich zurück in den Nebenraum, schimpfen, runzeln die Stirn, atmen Fragezeichen. Leute, da draußen wartet euer Publikum. Ihr geht da jetzt raus!

Erst als das geschafft ist, setzen wir uns zusammen und blicken zurück. Ich konnte ihre Energie nicht leiden! Und diese Stiefel! Und ich wusste gar nicht, was sie da macht! Ja, es war irgendwie komisch, aber mich hat sie auch gestört. Man konnte gar nicht miteinander in Kontakt treten. Tja! Das habe ich dir ja gesagt, als ich meinte, es wird vielleicht nicht leicht, in eine bestehende Gruppe zu gehen, und dann noch später dazu zu stoßen. Schnitt.

Zum Glück läuft die Zeit weiter, und zum Glück kann es passieren, dass man sich im einen Moment in einem winzigen Raum mit einem Ölradiator befindet, und im nächsten schon in der schneidend frischen Winterluft. Ich kann es nicht fassen, sage ich zu meiner Freundin. Da lief es bei allen schlecht und so kollektiv haben sie mich sofort zum Sündenbock erkoren! Und dann der Lehrer! Tja! Das habe ich dir ja gesagt…….Ich dachte ja, ich befasse mich nicht mit meiner Geschichte. Aber das hätte ich sowieso nicht erwartet: Ich war “der Migrant”. Ja, meine Liebe. Und der Lehrer war die korrupte Regierung.

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