Es gibt auf meinem Heimweg einen Imbiss, in dem man wunderbar frische Suppen schlürfen kann. Aber besser noch als das, dieser Imbiss ist einer der wenigen Orte, die ich in Deutschland kenne, an die man allein kommen kann, an denen man aber nicht lang allein bleibt. Einfach so kommt man mit Unbekannten ins Gespräch und kann immer wieder spannenden Austausch haben, als würde man nur das knisternde Silberpapier eines Glückskekses öffnen und sich überraschen lassen von den Worten auf dem Zettelchen zwischen Fabrikgebäck. Ich glaube, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, diese Leute, die sich ausgedacht haben, ihre Gäste platzsparend gemeinsam an kleine Tische zu verfrachten, bis die Sitzplätze ausgelastet sind, ich glaube diese Leute leisten damit einen wirklichen und echten Beitrag zur Integration in Deutschland.
So hatte ich zum Beispiel einmal das Glück, mit einem jungen Mann zusammen zu sitzen. Er könnte aus Indien, Pakistan oder Sri Lanka stammen. Er könnte Student, Doktorant oder Gastdozent sein. Das war eines der seltenen, aber in letzter Zeit deutlich häufiger vorkommenden Male, dass mir small talk bedeutsam erschien. So bedeutsam, dass ich jetzt, Monate später, wieder einmal an seine Worte denken muss.
“Das Leben in Deutschland ist ganz schön kompliziert”, sagte er. Sofort spürte ich großes Einverständnis mit seiner Ansicht, aber ein bisschen überrascht hat mich das als Gesprächsbeginn doch. “Bei uns ist das Leben ganz anders, es ist viel einfacher”, ergänzte er. Und er sagte, damals, zuhause, habe er sich niemals vorgestellt, was in Europa wirklich auf ihn zukommen würde. Jetzt lebe er in Südfrankreich, spreche fließend Französisch und habe sich allmählich auch eingelebt. Das sagte er auf akademischem Englisch. “Meine Familie, sie lebt in einem kleinen Dorf. Wenn ich dort erzählen würde, was man hier alles machen muss, um hier zu leben, sie könnten sich das gar nicht vorstellen.” Sehr höflich und formvollendet wünschten wir einander einen guten Appetit und dann viel später einen schönen Tag. Die Besser-Europäer. Die sich alles möglichst genau abgucken und dann bemüht sind, jede ungeschriebene Regel einzuhalten und bloß alles richtig zu machen im öffentlichen Raum. Was das für eine Anstrengung bedeutet.
Früher habe ich meine Familie manchmal insgeheim Mimikry-Deutsche genannt. Mir schien, sie wollten so sehr den über Generationen gehegten Traum verwirklichen, in Deutschland anzukommen, dass sie alles aufsogen wie ein Schwamm. Nur das ersehnte Glücksgefühl, das schien eigentlich eher selten durch.
Aber immerhin: Mit einer alternativen Lebenswelt in der Vergangenheit haben wir, die wir in dieser Szene Suppe mit Koriandergrün und Limette schlürfen, etwas Waches, wir beobachten, analysieren und ordnen ein. Wir können ganz genau benennen, was alles dazu gehört, um in den gesellschaftlichen Systemen Europas eine Rolle zu spielen, einen Platz zu finden. Und dazu gehört weniger der Handschlag, den de Maizière jetzt als Teil seiner “deutschen Leitkultur” benannt hat, sondern mehr Praktiken, die man besonders gut erkennt, wenn man zwei, drei Schritte zurück tritt vom Alltag hier und sich das ganze aus der Ferne anguckt: Es geht um die Meldung des Wohnsitzes, um fristgerechte Anmeldung mehrere Monate vor Beginn eines Sportkurses/ VHS-Sprachkurses/ Studiums oder eben für Kita- und Schulplatz, um die Verwaltung von Bank-Konto, die Ummeldung aller Bankabbuchungen nach einem Banken-Wechsel. Es geht um das Auf-dem-Laufenden-Bleiben, was Buchungssysteme für Bahn, Reisebus, Mitfahrgelegenheiten angeht, um ein individuelles und auf jeden Fall bitteschön geheim zu haltendes Konzept für die Vergabe und den Verschluss von Passwörtern für alle möglichen sozialen Netzwerke, Online-Banking, Mobilfunk-Servicewelt, Medienplattformen und vieles mehr. Wer genau soll das eigentlich alles ohne Sekretär*in bewältigen können? Und damit nicht genug, denn auch wenn ich hier gar nicht ins Detail gehe mit den Schwierigkeiten beim Durchhalten des Integrationskurses oder bei Dates mit Ausländerbehörde und Jobcenter, deren letztere jede*n betreffen, sobald festgestellt wird, dass man nicht genug Einkommen hat zum Bestreiten des Lebensunterhalts, fallen mir immer noch andere Bereiche ein, die alle betreffen: Telefonverträge, Internet, Reparaturen, und herrlich, bei all jenen, deren Hobby Internet-Einkauf ist: Versenden von Retoure, Widerrufen von Verträgen, was nicht alles so anfällt. Wenn man arbeiten möchte, fallen die schriftlichen formal geregelten Bewerbungen an, oder, noch spannender, die Auseinandersetzung mit geltendem Recht in Handel, Handwerk etc., immer schön nach dem Motto: Alles ist möglich, you’re free to do whatever you want – as long as you can manage administration.
Das alles ist das, was das Leben hier so kompliziert macht. Unser Alltag ist durchzogen von Ordnungssystemen, von Verwaltung, von Datenbahnen. Und witzigerweise erlebe ich öfters im Freundeskreis erstaunte Blicke, wenn ich mich etwa beschwere, dass Bahntickets so teuer sind. Man müsse doch nur rechtzeitig buchen und sich ein bisschen auskennen, dann wäre das Bahnfahren in Deutschland gar nicht so teuer. Ja, eben. Ich bin mir selbst nicht als Schwarzmalerin bekannt, und ich kann auch nicht akzeptieren als solche dargestellt zu werden. Gehört es zum guten Ton, ist es gar Optimismus, aus jeder Situation das beste zu machen, so wie meine Freundin in diesem Beispiel? Oder wollen wir mal gemeinsam zwei, drei Schritte zurücktreten und uns dieses viel besungene Hamsterrad angucken? Anstatt seinen Weg im Umgang mit dem Status Quo zu finden, wollen wir uns mal fragen, wie es stattdessen sein könnte?
Ich erinnere mich zum Beispiel gern an Reisen in Ländern, in denen man zum (Bus-)Bahnhof geht, eine Karte kauft, und in den nächsten Bus bzw. Zug steigt {natürlich in dem Wissen, dass der häufig vergleichsweise niedrigere Preis für die allgemeine Bevölkerung in den Reiseländern nicht unbedingt eben erschwinglich ist}. Es klingt schräg, das so aufzuschreiben. Als sei es etwas Besonderes. Well, es IST etwas Besonderes. Und wenn wir die Freiheit haben wollen, Dinge einfach tun zu können, ohne regelmäßig unsere Kostenspar-App-Kenntnisse pflegen zu müssen, wenn wir nicht wollen, dass ein Bus-Unternehmen alle anderen schluckt, um mit der Bahn konkurrieren zu können, wenn wir auch nicht wollen, dass durch den Preisdruck die Bezahlung der Busfahrer so schlecht ist, dass sie regelmäßig auch stark übermüdet am Steuer sitzen, wenn wir also wollen, dass die Steigerung des Wohlstands in Deutschland und auch auf der Welt auch für die Menschen nutzbar wird……dann müssen wir verstehen, dass unser ganzes technisch gepimptes System immer noch nicht den Menschen im Fokus hat. {Surprise, surprise, wa? Aber “wissen” ist eben was Anderes als verstehen, und verstehen ist immer noch nur die Vorstufe von handeln.} Und wenn wir verstanden haben, dann haben wir die Möglichkeit uns hier wunderhübsch einzubringen. Wo ich gerade schon bei meinem Transport-Beispiel bin: Locomore. Locomore ist das erste crowdfinanzierte Eisenbahnunternehmen der Welt und fährt die Langstrecke Berlin-Stuttgart. Das Credo ist ein Angebot mit Preisen, die in jedem Fall unter dem BahnCard-50-ICE-Flexpreis liegen {fresher Name für “eine Fahrkarte für eine*n Erwachsene*n, bitte” übrigens}. Ein Ansatz, um den Status Quo ins Wanken zu bringen, indem man etwas Neues einführt, das das Alte – wenn nicht überflüssig macht, so doch in Frage stellt. Inwiefern sich dadurch nachhaltig etwas verbessert, werden wir beobachten können. {Punkte, die mir gleich als kritisch auffallen, erläutere ich gerne mal beim grünen Tee…} Erstmal freue ich mich über die Einführung, die Einfachheit des Angebots dieses Unternehmens mit genau einem Zug, der einmal am Tag hin und einmal zurück fährt, und besonders über die so unfassbar netten Menschen, die ich unterwegs kennen gelernt habe. Ganz besonders freue ich mich über den Austausch von Sichtweisen und Erfahrungen, der – ausgelöst durch die bloße Anwesenheit eines Hahns im Nachbarabteil – bei meiner ersten Locomore-Fahrt zum höchsten Glücksgefühl geführt hat, als ich von meiner Sitznachbarin das Buch “Abenteuer Freiheit” von Carlo Strenger geschenkt bekommen habe – nun auch meine Leseempfehlung in turbulenten Zeiten.
Bevor die Suppe ganz kalt wird oder allen auffällt, dass ich überall gekleckert habe, weil ich das Schlürfen von Reisnudeln auch nach intensiver Übung noch wenig formvollendet beherrsche, komme ich zurück zur Integration. Wenn Integration bedeutet, dass man in der Mehrheitsgesellschaft des Ziellandes zurecht kommt, dann ist das, worein man sich etwa in Deutschland integrieren soll, schon etwas fragwürdig, oder? Und gerade daher denke ich, dass der vietnamesische, zurecht tripadvisor-empfohlene und auch bei internationalen Hipsters sehr beliebte Imbiss am Hermannplatz einen so guten Beitrag leistet zur Integration. Wenn man will, ist man dort eingeladen gemeinsam mit bis dahin Unbekannten zu hinterfragen, was wir hier tagtäglich tun. Und Zurechtkommen entsteht nur durch Austausch. Und je besser der Austausch, so meine Hoffnung, desto lohnenswerter wird auch die Integration. Weil sich dadurch das, worein man sich integrieren soll, ständig neu färbt und weiter entwickelt. Und mir scheint, da gibt es viel in den Gesellschaftsformen anderer Herkunftsländer, das uns allen hier Inspiration bieten kann. Bei einer nächsten Suppe hoffe ich daher, gedanklich weiterzukommen in der Frage, wie man auf gesellschaftlicher Ebene Freiheit mit Einfachheit verbinden kann. Denn dass die Lösung nicht bei der hier derzeit angesagten minimalistischen Wohnungseinrichtung und der ausschließlichen Verwendung des eigenen i-wahlweise Android-phones zur Regelung des Alltags liegt, soweit bin ich schon.