Was es heißt, Pazifist*in zu sein, beschäftigt mich spätestens seit der letzten Phase meiner Schulzeit. Beeindruckt von der Kraft, die freigesetzt wurde, als Hunderttausende aus den Dörfern und Städten Deutschlands auf die Straße gingen, um gegen den sogenannten Zweiten Irakkrieg zu demonstrieren, schrieb ich ins Abi-Buch einen Gruß und Dank an “Mahatma”, seither eines meiner lange Zeit wenigen namentlich benennbaren Vorbilder {weil ich eine tief sitzende Skepsis jeglichem Personen- und Heldenkult gegenüber hege, die mich ansonsten davon abhielt, jemanden, den ich nicht persönlich kannte, zum Vorbild zu küren, während ich bei allen, die ich persönlich kannte, wiederum neben dem Bewundernswerten auch empfindliche menschliche Schwächen vorfand, die mich dann davon abhielten, diese namentlich zum Vorbild zu erheben}. Und während ich ihm dankte, ohne Begründung, ohne irgendeinen Verweis, wandte ich mich enttäuscht an die Schulleitung, der ich vorwarf, uns für unser Engagement – in Form von friedlicher Teilnahme an einer Demonstration – mit unentschuldigten Fehlstunden zu bestrafen, anstatt uns darin zu unterstützen, was ich für das einzig Menschliche und Vernünftige und Wahre in dem Fall gehalten hätte. Jedenfalls war es dies, was ich in einem knappen Satz damals ausdrücken wollte.
Mahatma Ghandi steht bekanntlich für friedlichen Widerstand, für Verzicht auf Waffen im militärischen Sinn und auch für die bewusste Anwendung von Sprache und Haltung als Waffe stattdessen – selbst bei gewaltsamen Angriffen. Ein Zitat von ihm, als eines von wenigen für lange Zeit, bedeutete mir so viel, dass ich es auf eine historische Stadtfotografie schrieb und in einem antiken Bilderrahmen aufstellte {hat es eine Bedeutung, dass ich diesen auf dem Flohmarkt auf der Straße des 17.Juni in Berlin kaufte? Und welche Bedeutung hat überhaupt das Private für das Politische?}. Das Zitat lautet: “Erst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du”. Dieser Satz hat mich schmerzlich überrascht, innerlich aufgewühlt, und letztlich auch ermutigt in Bezug auf Gewaltfreiheit. Besonders hat er mich ermutigt, anderen Mut zuzusprechen, die sich hartnäckig und mit stiller Konsequenz für Gutes einsetzen und dabei nicht sofort Früchte ihres Erfolgs ernten können. Ghandis starke Haltung fasziniert mich weiter auch in diesem Moment, da ich schreibe, und mir wünschte, ich könnte meine Haltung mit ihm besprechen und ihn um Rat bitten. Denn Ghandi wird auch ein weiteres Zitat zugeschrieben, das meine Ausführungen in mehrerlei Hinsicht berührt: “Die Ehrfurcht vor dem ‘universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit […] hat mich in die Politik geführt; und ich kann ohne Zögern und doch in aller Demut sagen, dass ein Mensch, der behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet’.” – nach Hubertus Mynarek, „Gedanken zur Logik der Macht“, aus: „Aufklärung und Kritik“ 1/1998, S. 27 ff
Während Religiosität sich meines Erachtens ehrenvoll in Haltung widerspiegeln sollte {und wie ich in meiner Notiz “Wort zu 2017” schon beschrieb, meines Wissens unabhängig vom Namen der konkreten Religion letztlich dieselben friedensvollen und alle Menschen wertschätzenden Sichtweisen und Handlungen, und damit Werte, umfassen müsste}, mahnt mich meine eigene Ehrfurcht vor dem universalen und alles durchdringenden Geist der Wahrheit, dass Politik über die Haltung hinaus gelegentlich {sicherlich viel häufiger, als mir bisher bekannt und bewusst ist} auch scheinbar Widersprüchliches umfassen muss. Pier Paolo Pasolini sagte wohl mal in einem anderen Kontext “Ich weiß sehr wohl, wie widersprüchlich man sein muss, um wahrhaft konsequent zu sein”. {Was für ein überaus interessanter Charakter er doch gewesen sein muss, ich will mich mehr zu ihm belesen!}
Ich bin der Ansicht {und ich würde mir wirklich profunde Auseinandersetzung und einen ehrlichen Diskurs zu diesem Thema wünschen, einen Diskurs, der mir wohl in Istanbul, nicht aber in Deutschland bisher wirklich gegönnt war (!), vermutlich, weil ich in Istanbul auf mehr Menschen getroffen bin, die – (z.T. Zeit ihres Lebens) von gewaltsamen Handlungen umgeben – das Nachdenken über Politik viel selbstverständlicher miteinander im verbalen Austausch praktizieren; nicht umsonst nennt man Istanbul den Katalysator zwischen Orient und Okzident}, dass die Realpolitik es in Deutschland notwendig macht, militärisch gerüstet zu sein {anstatt sich an Kriegen vielmehr implizit durch Waffenlieferungen zu beteiligen}, ethisch ausgebildete und geschulte, reflektierte und psychologisch unterstützte Soldat*innen bereit zu haben, und sich dennoch nicht (!!) aktiv in Kriegshandlungen zu involvieren. Das bedeutet für mich “pazifistisch zu sein” für Deutschland. Ich kritisiere die Ausblendung der Wichtigkeit eines starken Militärs in der Öffentlichkeit – nicht aber kritisiere ich die Auflösung der Wehrpflicht. Warum aber braucht Deutschland m. E. ein starkes Militär? Ganz einfach.
Deutschland braucht ein starkes Militär, weil viele andere Länder auch eines haben. Oder mehrere, etwa in Form einander bekämpfender Privatarmeen {z.B. so erfahren auf den Philippinen, wo es mehr als 80 solche geben soll [Stand 2004]} oder in Form von sogenannten terroristischen Organisationen {ich verzichte auf Nennung von Länderbeispielen, erinnere aber daran, dass international häufig ausschließlich die nichtstaatlichen Gewaltstrategien als terroristisch benannt, durch diesen Begriff gebrandmarkt und verurteilt werden} und damit in Selbstjustiz wirksam werdender Gruppierungen, die mancherorts als “Guerilla”, mancherorts als “wütender Mob” und mancherorts als “Miliz” in Erscheinung treten. Die meisten Länder der Welt haben organisierte militaristische Gruppierungen. Und diese treffen nicht nur physisch aufeinander, sondern werden als Druckmittel leider inzwischen auch wieder spürbar massiv zur Machtsicherung in diplomatischen Verhandlungsgesprächen eingesetzt. Mehrfach begegnete ich in den letzten Jahren der für mich nachvollziehbaren These, dass der Kalte Krieg nicht Geschichte wäre, sondern vielmehr andaure, ja, sich möglicherweise ausgeweitet/ verschoben/ verändert habe. Und “Kalter Krieg” sollte nicht nur verstanden werden als eine Form der gegenseitigen Bedrohung zweier kontroverser Systemvorstellungen à Sozialismus/Kommunismus vs. Kapitalismus. Vielmehr stellt eine Androhung des tatsächlichen Einsatzes menschenvernichtender Waffen {und ich empfinde den Ausdruck “Kernwaffen” als ganz unpassenden Euphemismus für die Waffen an der Spitze dieses Eisbergs}, also die Änderung des Aggregatzustandes von “kaltem” zu “brennendheißem” Krieg eine reale Bedrohung der gesamten Existenz von Leben auf der Erde dar.
Nicht nur stärkt es das Sicherheitsgefühl der Bewohner*innen eines Landes, wenn man weiß, dass man sich verteidigen kann, wenn es darauf ankommt {die Situation der Welt nach Einsatz einer Atombombe durch egal welche Partei möchte ich mir allerdings wirklich gar nicht auch nur vorstellen müssen, denn da wäre jede Form der defensiven Reserve – sei es militärischer oder eben diplomatischer Art – verheerend schwach}. Man könnte reagieren, wenn es zu einer Naturkatastrophe käme {und solche finden ja inzwischen teils eher unverhofft auch an bisher verschont gebliebenen Orten statt #Klimakatastrophe} oder wenn es die Sicherheitslage temporär erfordern würde, also wenn tätliche Übergriffe geschehen und man die Polizei in Windeseile um geschultes Personal ergänzen müsste. Nicht nur das. Deutschland wäre dann selbstsicherer, weniger kompromitierend aus vermeintlichem Selbstschutz, und damit weniger erpressbar. Deutschland wäre also auch – und hier schillert definitiv stärker hervor der pazifistische Kern, für den Mahatma Ghandi steht – überhaupt weiterhin ein ernst zunehmendes, weil gewichtiges und gewappnetes {Etymologie ist schon spannend!}, Land für diplomatische Verhandlungen – zu ungefähr allen Themen, die die Welt gerade immer weiter spalten, allgemein gesagt zu Verteilungsfragen, nämlich zu Fragen der Verteilung nicht nur von Reichtum, sondern auch der damit verbundenen Macht {#Arbeit #Geld #Territorium #Gesetzgebung #Staatsform #Gesellschaftsform #Werte #Umgangsformen}.
Und ich denke, nichts Geringeres darf unser Ziel sein. Denn die Menschen in diesem Land, sei es durch eine mehr zufällige Anwesenheit durch Geburt oder durch ihren freiwilligen oder auch eher unfreiwilligen Zuzug, haben viele kluge Ideen hervorgebracht in der aktuellen Phase der doch über dem Mittelwert vorhandenen Meinungs- und Pressefreiheit. Und das ist der wahre Reichtum unseres Landes, nämlich die Diversität an Weltsichten und Erfahrungshintergründen, die hier allmählich nicht nur nebeneinander stehen oder sogar miteinander kollidieren, sondern die allmählich auch anfangen als Hybrid konstruktiv zu werden {was ich mir über so viele Jahre sehnsüchtig gewünscht hatte!!}. Unser Ziel muss es sein, diese Form des Reichtums weiter auszubauen, und allen Reichtum friedliebend zu teilen. Und dazu bedarf es neben vielen tollen aktiven Menschen auch einer Regierung, die gesellschaftliche Bedürfnisse und religiöse Haltung politisch umsetzt. Wir brauchen eine Regierung, die dem Wohle aller Lebewesen dieser Erde dient – und nicht nur demokratisch gewählt wird. {Letztlich könnte so eine Regierung aus Individuen egal welcher Partei zusammengesetzt sein, wenn die Haltung eben stimmt!}.
Daher – lasst uns miteinander sprechen und einander zuhören!
Lasst uns politische Debatten führen und unsere Haltung überprüfen!
Lasst uns – mit voller Wucht – friedlich sein, lasst uns Frieden fordern und fördern, um ihn zu erreichen.
Ich habe in Istanbul dem Frieden mein Wort gegeben. Und ich halte mein Wort. Istanbul’da Barişa söz verdim. Ve dediklerime yapiyorum.
Artikel zum Thema:
Christian Schwägerl, 16.02.2017: http://www.zeit.de/2017/06/dienstpflicht-junge-menschen-rolle-gesellschaft-stresstauglichkeit